Wahrscheinlich ist es selbst hartgesottenen Hop-Guys schon mal so ergangen. In letzter Zeit bin ich häufig über Craft-Biere gestolpert, die mit vogelwilden Rohstoffkombinationen an ihre Geschmacksgrenzen stießen: Pralle Hopfenzugaben und satte Malzkombinationen, inklusive IBU-Rekordwerte und sensationellem Alkoholgehalt. Das kann durchaus spannend sein, aber wenn die Balance nicht stimmt, wenn nach Kalthopfung und der Beigabe von Bohnenkraut und Chilischoten der Sud noch monatelang im Whisky- oder Cognac-Fass lagert, dann sind die meisten Konsumenten – ganz abgesehen vom Flaschenpreis – ziemlich überfordert. Sicher, es ist äußerst effektvoll, wenn das Etikett rund 20 Hopfen- und ein Dutzend Malzsorten anpreist. Aber wenn selbst Experten nicht mehr begreifen, was da am Gaumen eskaliert, ist wohl was schiefgelaufen.
Nichts gegen Experimentierfreude und tollkühne Geschmacksabenteuer, selbst wenn alle erträglichen IBU-Grenzen fallen. Aber so manch unharmonisches Gebräu bringt die noch junge Kreativbier-Branche nicht unbedingt weiter. So mancher Einsteiger dürfte von seinem ersten Craft-Genuss derart schockiert sein, dass er nie wieder ein Glas anrührt. Selbst die wahren Hop-Heads ziehen inzwischen Biere vor, mit denen sie schon mal einen ganzen Abend bestreiten können ohne gleich die Theke aus der Froschperspektive betrachten zu müssen.
Es ist durchaus ehrenvoll, wenn die kreativen Macher bei ihren Fans mit phantasievollen Gaumenerlebnissen punkten wollen. Aber nicht jeder Braumeister ist gleich ein Mikkel Bjergsø (Mikkeller), ein James Watt (BrewDog) oder Samuel Richardson (Other Half Brewing). Klar ist jedoch: Vielseitigkeit und Kreativität zählen zum Grundgesetz der Craft-Bierbranche, und ein richtig gutes Bier sollte sich innovativ, originell und überraschend präsentieren – aber es muss auch trinkbar und bezahlbar sein.
Erschienen im Meiningers CRAFT Magazin.
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